Zeruya Shalevs Debütroman “Nicht ich” erschien in Israel im Jahr 1993, als die Autorin Anfang dreißig war und zuvor Gedichte veröffentlicht hatte. Die Kritik reagierte heftig und mit Wut und Unverständnis auf das Buch, das nun erstmals auf Deutsch erscheint. Der Roman handelt von einer ambivalenten Heldin, die ihren Weg in ein neues selbstbestimmtes Leben sucht. Die Icherzählerin ist eine Frau, die über ihre Doppelrolle als Ehefrau und Mutter wahnsinnig geworden ist und in traumatischen Szenen nach dem eigentlichen Ich inmitten von gesellschaftlichen Erwartungen sucht.
Es handelt sich um eine postmoderne Erkundung eines Frauen-Ichs, das sich aus latenten Nähe zur Unmündigkeit und Unfreiheit zu befreien versucht, aber dennoch unsicher und widersprüchlich bleibt. Das Buch fügt dem Narrativ ein postmodernes Kapitel hinzu, in dem die Protagonistin ihrer Hyperwahrnehmung und der entgleitenden Wirklichkeit begegnet. Dabei bleibt offen, ob der Verlust des Kindes real ist oder eine der Ängste der Protagonistin repräsentiert, die sich aus dem Verlassen des gesicherten Systems Familie ergeben.
Die Auseinandersetzung mit dem Roman kann als Vorarbeit für Shalevs vielschichtige Frauenfiguren in späteren Werken, wie “Liebesleben” oder “Schicksal”, sowie als experimentelle Erkundung eines postmodernen Frauen-Ichs gelesen werden.
“Im Viertel schauten mich die Leute so seltsam an”, heißt es an einer Stelle: “Abends, wenn alle Nachbarinnen Kartoffeln schälten und Rotkohl in die Moulinette steckten, zog ich mir meine engen Tigerhosen an und eine Bluse aus schwarzem Samt und verschwand.” Die somnambule Selbstsuche einer Frau in einem Draußen, das Leere, Freiheit und Sex verspricht, haben schon andere Schriftstellerinnen vor Shalev zum Zentrum ihrer Prosa gemacht.
Der Roman behandelt die Leerstelle im Leben der Frau, in der sie auch sich selbst erkennt. Es heißt, das Kind sei von Soldaten weggebracht worden, “über die Grenze gebracht”, jedenfalls weg aus dem Kindergarten, unter dem sich Tunnel befinden. Somit nähme der Roman fiktional die Schrecken vom 7. Oktober vorweg.
Zeruya Shalev: “Nicht ich. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin Verlag, 208 Seiten, 24 Euro.