Aktueller Blick auf das humanitäre Völkerrecht
Weltweit gibt es derzeit mehr als 100 bewaffnete Konflikte, doch anders als früher ist in diesen Kriegen nicht mehr alles erlaubt. Ein Gespräch mit dem Münchner Juristen Daniel-Erasmus Khan über die historischen Wurzeln des humanitären Völkerrechts und die aktuelle Debatte über mögliche Kriegsverbrechen im Gazastreifen
Herr Professor Khan, war Napoleon Bonaparte ein Kriegsverbrecher?
Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan: Die Antwort ist juristisch ganz klar: Napoleon war kein Kriegsverbrecher. Zu seiner Zeit galt noch immer der alte lateinische Grundsatz inter arma enim silent leges – denn unter den Waffen schweigen die Gesetze. Der Krieg war ein rechtloser Zustand. Man konnte ihn im Grunde führen, wie man wollte. Brutal und moralisch fragwürdig war Napoleons Vorgehen natürlich. 1799 ließ er zum Beispiel nach der Eroberung der Stadt Jaffa in Palästina Tausende Gefangene hinrichten. Würde das heute passieren, wäre es ein Kriegsverbrechen. Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen, unsere eigenen Vorstellungen von Verbrechen auf die Vergangenheit zu projizieren. Da gilt das Rückwirkungsverbot, wie wir Juristen es nennen.
Wann kam die Idee auf, dass im Krieg nicht alles erlaubt ist?
Die Idee, dass man dem Krieg Schranken setzen kann, ist so alt wie der Krieg selbst. Was mir besonders wichtig ist: Dies ist keine Errungenschaft der westlichen Zivilisation! In Indien taucht sie schon im mehr als 2000 Jahre alten Heldenepos “Mahabharata” auf, und auch die Kalifen haben entsprechende Regeln erlassen. Die Vorstellung, dass man den Krieg einhegen soll, war also in vielen Kulturen verankert. Aber das waren keine Rechtssätze, auf deren Grundlage man jemanden hätte anklagen können, das waren ethisch-moralische Standards.
Warum hat man denn den Krieg nicht mit allen Mitteln geführt?
Die erste Motivation war die Angst vor Rache. Man hat die Frauen und Kinder seiner Feinde verschont, damit diese es mit den eigenen ebenso tun. Der zweite Grund waren Nützlichkeitserwägungen. Nach dem Motto: Ein getöteter Kriegsgefangener ist schlechter als ein lebender Kriegsgefangener. Den konnte man ja zum Beispiel austauschen. Dazu hat es schon immer in allen Kulturkreisen ethische oder moralische Skrupel gegeben.
Die Entwicklung des humanitären Völkerrechts
Die Genfer Konventionen und die Haager Friedenskonferenzen
Damals begann die Verrechtlichung des humanitären Völkerrechts im eigentlichen Sinne. Es ist im Wesentlichen – von ein paar Vorläufern abgesehen – ein Produkt jener Zeit. Interessanterweise ging die Initiative für diese Friedenskonferenzen von Nikolaus II. aus, dem russischen Zaren. Die Russen haben sich damals sehr für das Völkerrecht engagiert – ganz anders als heute. Der Zar hat das allerdings nicht primär aus humanitären Gründen getan, sondern weil er wusste, dass sein Land den anderen europäischen Großmächten militärisch unterlegen war. Hauptziel dieser Friedenskonferenzen war es deshalb auch, Wege zu finden, wie man Kriege von vornherein vermeiden konnte, zum Beispiel durch friedliche Streitbeilegung. Zugleich wurden in Den Haag aber auch Regeln aufgestellt, die die Art und Weise der Kriegsführung betrafen, die sogenannte Haager Landkriegsordnung.
Absolut. Außerdem darf man keine Hinterlist ausüben, keine vergifteten Waffen einsetzen und so weiter. Es ist ein ganzer Katalog.
Die Herausforderungen des modernen humanitären Völkerrechts
Das ist eine gewaltige Herausforderung. Die KI und die “automatic weapons” stellen nämlich fundamentale Grundsätze des traditionellen Völkerrechts in Frage, das ja davon ausgeht, dass Menschen die Verantwortung tragen. Auf der anderen Seite gibt es auch Stimmen, die sagen: Automatische Waffen sind die viel besseren Kämpfer, weil sie keine Rachegefühle kennen. Diese fordern aber in einem Krieg die meisten unschuldigen Opfer. Eine andere große Herausforderung für das humanitäre Völkerrecht hat nichts mit dem technologischen Wandel zu tun, sondern mit dem Auftauchen neuer Akteure …
Ja, wenn man es mit Gruppen zu tun hat, die sich prinzipiell nicht an Regeln halten wollen, dann hat jede Rechtsordnung ein Problem. Man braucht einen gewissen Grundkonsens.
Israels Kampf gegen die Hamas und die Gaza-Krise
Das ist schwer in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen. Ich sage mal so: Die Israelis kennen die Regeln, und sie bemühen sich auch, sich daran zu halten. Und die Grundregel des humanitären Völkerrechts ist die Trennung zwischen Zivilisten und Militärs. Zivilisten sind geschützt. Zugleich verfolgt Israel in Gaza ein legitimes Ziel: die Bekämpfung der militärischen Infrastruktur. Dass dabei unter bestimmten Umständen auch Zivilisten zu Schaden kommen, das nimmt das humanitäre Völkerrecht in Kauf – im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Eines muss man sich klarmachen: Das humanitäre Völkerrecht verbietet den Krieg nicht, sondern setzt ihn geradezu voraus. So hat schon Henri Dunant gedacht: Man kann den Krieg nur dann humanisieren, wenn man ihn als Phänomen akzeptiert und den Kriegführenden grundsätzlich zugesteht, dass sie ihre Kriegsziele erreichen, sofern diese denn legitim sind. Natürlich heiligt auch hier der Zweck nicht die Mittel. Deswegen stellt das humanitäre Völkerrecht Schranken auf. Aber diese Schranken dürfen nicht so hoch sein, dass die Kriegführung unmöglich gemacht wird. Also, wenn die Hamas sich unter Zivilisten versteckt, dann kann man nicht sagen, und das ist jetzt ziemlich brutal, wir dürfen diese Infrastruktur nicht angreifen, weil sich dort Zivilisten aufhalten.