Zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl haben Tausende Menschen in der russischen Teilrepublik Baschkortostan gegen ein Gerichtsurteil demonstriert – ein Protest, der so kaum noch möglich schien. War der Krieg da los?
Das Urteil ist hart: vier Jahre Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen für eine Bezeichnung. „Kara Khalyk“ steht im Baschkirischen, einer Turksprache, für „Schwarze“ oder „einfaches, schwarzes Arbeitervolk“. Der politische Aktivist Fail Alsynow hatte damit in einer Rede während Umweltprotesten in der russischen Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga Migranten aus dem Kaukasus bezeichnet.
Er erklärte vor Gericht, er habe damit „Schwarzarbeiter“ gemeint, auch illegal beschäftigt. Die Behörden schätzten den Ausdruck dennoch als beleidigend ein, machten Alsynow Prozess und verurteilten ihn schließlich wegen Anstiftung zu ethnischem Hass.
Was danach geschah, war untypisch für das Russland unter Wladimir Putin zwei Jahre nach Beginn des Ukraine-Krieges: Mehrere Tausend Menschen zogen im kleinen baschkirischen Städtchen Baimak vor das Gerichtsgebäude und forderten die Freilassung Alsynows. Um die versammelte Menge auseinanderzujagen, setzten die Beamten Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcke ein.
Daraufhin warfen die Demonstranten Schneebälle auf die Polizisten. Gegen Mittag folgten erste Festnahmen. Es wurden Strafverfahren wegen angeblicher Massenaufstände eingeleitet. Höchststrafe: bis zu fünfzehn Jahre Haft. Gegen Abend war alles vorbei und das Land staunte über das Ausmaß des zivilen Ungehorsams. Denn seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine wurde so gut wie jeder Protest rigoros im Keim erstickt – und zwar, anders als in diesem Fall, mit Erfolg.
Der 37-jährige Fail Alsynow ist der bekannteste politische Aktivist in der Republik Baschkortostan im Ural-Gebirge. Seine vom Gericht scharf kritisierte Rede hielt er während einer Aktion gegen Pläne zum Goldabbau im Dorf Ishmurzino im Bezirk Bajmak im April dieses Jahres. Lokale Aktivisten beschuldigten damals die Regierung, mit Goldminen-Unternehmen zusammenzuarbeiten und warnten vor den Umweltschäden.
Kritik am Ukraine-Krieg
In derselben Rede kritisierte Alsynow auch Russlands Krieg in der Ukraine: „Was haben wir davon?“ Was für eine Politik ist das gegenüber unserem Volk? Das verstehe ich nicht.“ Als Co-Vorsitzender des Vereins „Bashkort“ war Alsynow den Behörden schon früher aufgefallen. Sein nicht registrierter nationalistischer Verein setzte sich für die Unabhängigkeit Baschkortostans ein und wurde als extremistisch eingestuft und verboten.
Für das Oberhaupt der Republik Baschkortostan, Radij Khabirow, ist Alsynow deshalb kein Umweltaktivist. Der Politiker besuchte die Stadt Bajmak einen Tag nach den Protesten und erklärte der Bevölkerung: „Man kann sich die Maske eines Öko-Aktivisten und Patrioten aufsetzen.“ In Wirklichkeit ist die Situation nicht so. Eine Gruppe von Personen, von denen sich einige im Ausland befinden und die im Grunde genommen Verräter sind, rufen von dort aus zur Abspaltung Baschkortostans von Russland auf. Sie rufen hier zum Guerillakrieg auf.“
Fail Alsynow als Symbolfigur des Widerstands
Alsynow bleibt für viele in der Region eine Symbolfigur des Widerstands, den die Behörden dieses Mal besonders hart niedergeschlagen haben. Diese Härte ist für die russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann ungewöhnlich. Ihrer Meinung nach hätte die Polizei stattdessen bewährte Taktiken anwenden und die Demonstranten in der Kälte stehen lassen können – und zwar so lange, bis sich die Menge von selbst aufgelöst hätte.
Danach mussten die Beamten einzelne Aktivisten zu Hause oder auf ihren Arbeitsstätten aufsuchen können. „Das hilft, das grässliche Bild von prügelnden Polizisten zu vermeiden“, stellt Schulmann gegenüber der Deutschen Welle fest.
Die Expertin weist darauf hin, dass auch Proteste in Moskau nach der Inhaftierung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny 2021 auf dieselbe „stille Kunst und Weise“ aufgelöst worden seien. Genauso, sogar noch leiser, hätten die Behörden auch auf die Pogrome am Flughafen Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan im vergangenen Jahr reagiert, als eine Maschine aus Israel von einem Mob angegriffen wurde. Beide Male sei es nach dem Motto gelaufen: „Bloß kein Aufsehen erregen.“
Dieses Mal aber entschieden sich die Behörden für „spektakuläre Blendgranaten und Schlachten.“ Nur zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl sei diese Taktik riskant, unterstreicht Schulmann. Dass die Obrigkeit sie dennoch angewandt habe, erklärt sie mit einer „administrativen Funktionsstörung“, bei der verschiedene Teile des Machtapparats nicht im Einklang miteinander agieren: „Die politischen Manager können den Sicherheitskräften nichts sagen, weil diese ihre eigenen Machtvertikale haben.“
Die Polizei untersteht nämlich dem Innenministerium, die Verwaltung ist daher nicht weisungsbefugt. Diese „administrative Funktionsstörung“ erhöht die Risiken für die Staatsführung in Moskau im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, mache sie unpopulärer.
Russlands latentes Nationalitätenproblem
Erschwerend hinzu kommt das Nationalitätenproblem. Wie in Baschkortostan würden sich nationale Minderheiten auch in anderen Republiken von den Russen dominiert fühlen. „Das kommt zu den anderen Missständen in Regionen hinzu, die noch ‘im Schlaf’ sind, weil das Zentrum noch stark ist. „Aber manchmal holen sie einfach alles Protestpotenzial heraus und erinnern lautstark daran, dass Moskau sie schon immer beleidigt haben“, resümiert Schulmann.
Der russische Politikwissenschaftler mit baschkirischen Wurzeln Abbas Galjamow stimmt dieser These zu. Er war selbst mehrere Jahre in der regionalen Verwaltung von Baschkortostan tätig. Im Deutsche-Welle-Interview sagt Galjamow, dass die „patriotische“ Regierung mit der Verfolgung von Aktivisten und der Unterdrückung von Protesten in Wirklichkeit eine Bombe unter dem Fundament Russlands lege: „Zum Zeitpunkt, zu dem es dem Moskauer Regime wirklich schlecht gehen wird, könnte die Last der Beschwerden, die die Menschen vorbringen, nicht mehr zu bewältigen sein.“
Gefahr für den Kreml?
Auch Galjamow findet es bemerkenswert, dass es sich um einen Protest einer nationalen Minderheit handelt. Er erinnert daran, dass die gesamte Sowjetunion nach einem ähnlichen Szenario zusammengebrochen sei: Viele Völker, die ihre Unabhängigkeit erklärt hätten, hätten sich damals an die Massendeportationen erinnert, unter denen ihre Vorfahren in der UdSSR gelitten hätten. Und das, obwohl jene Deportationen ein halbes Jahrhundert zurücklagen. „Die nationale Erinnerung lebt lange“, sagt Galjamow.
Der russische Politikexperte Dmitrij Oreschkin sieht dagegen keine Gefahr für den Kreml, der speziell aus Baschkortostan ausgehen würde. Gegenüber der Deutschen Welle vermutet er, dass die lokale Regierung die Proteste erfolgreich unterdrücken würde. Es sei zwar neu, dass die Wut sich gegen die lokalen Machthaber richtete, die wiederum als Protegés Moskaus gelten würden. Dennoch sei das Protestpotenzial in Baschkortostan gering, weil dahinter keine politischen Kräfte stünden. „Ein Weckruf ist es allemal.“
Autor: Juri Rescheto