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„Aus dem Schmerz lernen“

Nur wenige Tage vor der russischen Invasion in der Ukraine, als sich Moskaus Streitkräfte an der Grenze versammelten, verliehen Beamte in der mittelalterlichen Stadt Lützen, Deutschland, einem Denkmal aus der Sowjetzeit aus dem Zweiten Weltkrieg, das vor einem Kindergarten im Stadtzentrum stand, den Status eines Wahrzeichens.

„Ehre sei dem großen russischen Volk – der Nation der Sieger“, heißt es in einer Inschrift, die im Juni von örtlichen Beamten auf einer Seite des zwei Meter hohen Pyramidendenkmals neu gestrichen wurde.

Auf der anderen Seite ist in leuchtendem Rot ein Zitat von Josef Stalin eingraviert, das an zwölf sowjetische Kriegsgefangene erinnert, die bei der Arbeit in der örtlichen Zuckerfabrik durch deutsche Hände ums Leben kamen. Ein leuchtend roter Stern mit goldfarbenem Hammer und Sichel ziert die Spitze der Pyramide.

Lutzen ist kein Ausreißer. Über ganz Deutschland verstreut, vor allem aber in der einst sowjetisch dominierten Deutschen Demokratischen Republik im Osten, erinnern mehr als 4.000 geschützte Denkmäler an die Opfer sowjetischer Soldaten im Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten in Berlin. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Sowjetische Panzer stehen auf Sockeln etwa einen Kilometer vom Deutschen Bundestag in Berlin entfernt, wo Bundeskanzler Olaf Scholz seine „Zeitenwende“-Rede hielt und erklärte, dass „die Welt danach nicht mehr dieselbe sein wird“ nach dem russischen Die Invasion der Ukraine bezeichnete er als die größte Bedrohung für die europäische Ordnung seit Jahrzehnten.

Ein paar Kilometer östlich, im ehemaligen Ostberlin, thront über dem Treptower Park eine 12 Meter hohe Statue eines russischen Soldaten, der ein deutsches Kind und ein riesiges Schwert hält.

Solche Denkmäler, von denen die meisten von der Roten Armee oder lokalen Verbündeten in Auftrag gegeben wurden, wurden in ganz Osteuropa jahrzehntelang als abscheuliche Symbole der Unterdrückung durch Moskau gestürzt, entfernt oder zerstört. Der Trend hat sich seit dem Einmarsch in die Ukraine nur noch beschleunigt.

Doch in Deutschland, einem der wichtigsten militärischen Unterstützer der Ukraine, sind sie vielleicht das auffälligste Beispiel für eine tief verwurzelte Schuld an den Gräueltaten der Nazis, die weiterhin die nationale Identität durchdringt.

In Interviews in drei deutschen Bundesländern erklärten Historiker, Aktivisten, Beamte und normale Bürger ihre Unterstützung für Denkmäler zur Verherrlichung eines ehemaligen Feindes und Besatzers als eine Mischung aus bürokratischem Abdriften, Abneigung gegen Veränderungen und einem felsenfesten Engagement für die Ehrung der Opfer der Nazi-Aggression Das übertrifft alle Veränderungen in den globalen Angelegenheiten.

„Uns wurde beigebracht, aus dem Schmerz zu lernen“, sagte Teresa Schneidewind, 33, Leiterin des Lutzen-Museums. „Unsere Gedenkstätten liegen uns am Herzen, weil sie es uns ermöglichen, aus den Fehlern vergangener Generationen zu lernen.“

Wolfgang Schälike, Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Instituts am Sowjetischen Garnisonsfriedhof in Dresden. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Gedenkstätten der Roten Armee sind nur einige der spaltenden Symbole, die in Deutschland bestehen bleiben, lange nachdem die politischen Systeme und gesellschaftlichen Sitten, die sie stützten, verschwunden sind, eine Abrechnung mit Parallelen in den Vereinigten Staaten und anderswo.

Erst letztes Jahr entschied das oberste deutsche Gericht gegen die Entfernung einer mittelalterlichen, antisemitischen Skulptur aus der Kirche, in der Martin Luther gepredigt hatte. Trotz Diskussionen sind einige Hakenkreuze aus dem Dritten Reich auf Kirchenglocken zurückgeblieben.

Diese Neigung zu dem, was Frau Schneidewind als „historisches Horten“ bezeichnet, führt dazu, dass viele sowjetische Gedenkstätten in Ostdeutschland den Namen Stalins tragen, fast 70 Jahre nachdem der Diktator in Russland selbst weitgehend aus öffentlichen Räumen vertrieben wurde.

Die meisten Deutschen bekunden ihre Unterstützung für die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland. Und mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine sind seit dem Krieg nach Deutschland gekommen.

Doch die seltenen Versuche von Antikriegsaktivisten, die Aufmerksamkeit auf die militaristischen sowjetischen Denkmäler zu lenken, konnten sich nicht durchsetzen, und nur wenige deutsche Politiker forderten deren Entfernung oder auch nur oberflächliche Änderungen an ihnen. Sie sagen, ihnen seien durch einen vor etwa drei Jahrzehnten unterzeichneten Pakt die Hände gebunden.

Ein sowjetischer Panzer aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Nähe des Berlin-Karlshorst-Museums in Berlin. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Kurz nach dem russischen Einmarsch wurden die in der Nähe des Parlamentsgebäudes stehenden sowjetischen Panzer kurzzeitig von ukrainischen Flaggen verdeckt. Die Polizei entfernte sie Stunden später und die Berichterstattung ging schnell weiter.

Für eine kleine Gruppe deutscher Politiker, Aktivisten und Wissenschaftler ist die Weigerung der Scholz-Regierung, öffentliche Symbole, die Russland verherrlichen, neu zu bewerten, ein Zeichen für die ambivalente europäische Führungsrolle Deutschlands, die sich zuletzt in der langwierigen Entscheidung zeigte, Deutschlands moderne Kampfpanzer für die Ukraine bereitzustellen.

Doch statt die Denkmäler der Roten Armee zu entfernen, haben örtliche Beamte in ganz Ostdeutschland einige von ihnen renoviert und erweitert, obwohl die nationale Regierung Milliarden von Euro ausgegeben hat, um Russland in der Ukraine zu besiegen.

In Lützen, einer Stadt mit 8.000 Einwohnern inmitten von Rapsfeldern, gaben Beamte mehr als 17.000 US-Dollar (573.500 Baht) für die Bemalung ihres sowjetischen Denkmals aus, nur wenige Tage nachdem Herr Scholz sich verpflichtet hatte, das neueste Luftverteidigungssystem des Landes an die Ukraine zu liefern.

Weiter östlich stellte die Stadt Dresden in diesem Jahr Mittel für die Renovierung des ersten von sowjetischen Streitkräften in Deutschland errichteten Denkmals bereit, das Statuen sowjetischer Soldaten und Szenen von T-34-Panzern zeigt, die deutsche Infanterie niedermähen. In der Nähe erweitern Stadtarbeiter den geschützten Bereich eines Militärfriedhofs, auf dem die Überreste sowjetischer Soldaten liegen, die während des Kalten Krieges in der Gegend stationiert waren.

Andreas Stahl, Historiker, mit Teresa Schneidewind, Leiterin des Lützen-Museums. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Beamte geben an, dass ihre Pflicht zur Pflege solcher Denkmäler auf das sogenannte Gute-Nachbarschafts-Abkommen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aus dem Jahr 1990 zurückgeht. Im Rahmen dieser Maßnahme verpflichtete sich jedes Land zur Erhaltung der Kriegsgräber des anderen auf seinem Territorium.

Es wird angenommen, dass die meisten Denkmäler der Roten Armee in Deutschland über den Gräbern sowjetischer Soldaten oder Kriegsgefangener errichtet wurden. Die russische Botschaft hat den Pakt genutzt, um die Bundesregierung auf beschädigte oder vernachlässigte sowjetische Denkmäler, darunter das in Lützen, aufmerksam zu machen.

Doch ein deutscher Historiker, Hubertus Knabe, hat eine Neubewertung des Abkommens gefordert, das beide Länder auch zum Frieden und zur Achtung der territorialen Integrität verpflichtet. Er sagt, dass Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine zumindest den Geist des Paktes zunichte gemacht habe.

Herr Knabe hat die Regierung von Herrn Scholtz außerdem gebeten zu erklären, warum Moskau weiterhin direkt an einer der wichtigsten Gedenkstätten des Zweiten Weltkriegs des Landes, dem Museum Berlin-Karlshorst, beteiligt ist. Im Vorstand des Museums sitzen Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums und fünf weiterer staatlicher Institutionen Russlands, ein weiterer Rückgriff auf das Gute-Nachbarschaft-Abkommen.

Die für das Museum zuständige Kulturministerin Claudia Roth reagierte auf Anfragen nicht.

Enno Lenze, Leiter des Berliner Geschichtenmuseums, in einer Rekonstruktion von Hitlers Bunker in Berlin. KSENIA IVANOVA/The New York Times

In Lützen sagen die Anwohner, dass sie ihr Denkmal der Roten Armee so belassen wollen, wie es ist, eine Hommage an den zentralen Platz, den die Pyramide im öffentlichen Leben der Stadt während der kommunistischen Herrschaft einnahm. Einige erinnern sich daran, wie sie herumgespielt haben, während sie den nahegelegenen Kindergarten besuchten, und sie sagen, dass sie sich gegen die Pläne wehren werden, es zu verlegen, um dort einen geplanten neuen Supermarkt unterzubringen.

„Das ist unsere Geschichte, egal was in der Weltpolitik passiert“, sagte der Bürgermeister der Stadt, Uwe Weiß. „Wir müssen uns darum kümmern, denn es ist ein Teil von uns.“

Ein Mann, der Blumen zum Sowjetischen Ehrenmal zu Ehren seines im Zweiten Weltkrieg gefallenen russischen Onkels im Tiergarten in Berlin brachte. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten. KSENIA IVANOVA/The New York Times

Ein Denkmal für sowjetische Kriegsgefangene, die dort im Zweiten Weltkrieg starben, in Lützen. KSENIA IVANOVA/The New York Times

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